Callbach, 23. Sept. 1911
Mein lieber Onkel! Gern hätte ich dir nach Frankreich einen Brief geschrieben, hätte ich nur deine Adresse gewußt; jetzt aber, wo ich dich wieder glücklich daheim weiß, will ich nicht länger säumen. In der Heimat kam ich glücklich an und das liebe Kleeblatt hat mich mit Freuden begrüßt. Natürlich mußte ich viel erzählen u. auch jetzt läßt man mir noch keine Ruhe. Da möchte jeder gern alles und jedes wissen. Ich habe in Schulen und Konferenzen schon einige
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Vorträge gehalten und die Heuchelheimer Bürger haben den Wunsch ausgesprochen ich möchte im Winter einige Familienabende veranstalten. Mit der schriftlichen Ausarbeitung meiner Reise habe ich begonnen und zwar schildere ich die Reise in abgerundeten Bildern. Ich will sehen, daß ich sie vielleicht in einer Zeitung veröffentlichen kann. Diese werde ich dir dann regelmäßig zusenden. Daß du zum Beschluß deiner Reise immer an mich gedacht hast, hat mich recht gefreut und sage ich für deine lieben Karten meinen besten Dank. Die Karten von Paris und Versailles habe ich erhalten. Daß Briefschaften von dir verloren gegangen sind wundert mich gar nicht so sehr, glaube ich doch auch schon
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dieselbe Erfahrung gemacht zu haben. Meine Reise, die ich durch deine Liebe zu mir, lieber Onkel, mit dir gemeinsam machen durfte, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Mein Gesundheitszustand hat sich durch sie sehr gebessert und ich fühle jetzt fein und kräftig; selbst meine liebe Lisabeth ist verwundert über meinen "Schneit" und meine "Unternehmungslust". Ich muß dir für den Rat, den du mir gegeben hast, wirklich dankbar sein; denn man ist wie neugeboren und aller Hang nach Träumerei und Schwermütigkeit ist geschwunden. Ich werde dir mit dem nächsten Brief eine Karte senden mit einem Bilde von mir und Lisabeth, welches bald nach [crossed out: unser] meiner
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Rückkehr aufgenommen wurde, sowie ich dir auch mein Bild aus Venedig senden werde. Dein Bild habe ich nicht - wir sprachen davon, daß du es mitschicken wolltest. - Von Alice in Interlaken habe ich eine Karte mit ihrem Bilde erhalten. Ich habe nocheinmal geschrieben, aber - Schluß! Kannst du dich noch erinnern, lieber Onkel, daß wir auf der Heimwehfluh den Namen E. Schultz - Berlin Schöneberg laßen und darüber: Ansichtskarten werden erwidert? Ich habe von Heuchelheim geschrieben und die E. Schultz entpuppt sich als eine reiche 25-Jährige Erna aus Berlin. Sie hat mir Karten geschrieben von Sylt (Seebad) und aus den Dolomiten, wo sie gegenwärtig
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weilt. Nach ihrer Schrift, sowie auch nach der Art und Weise, wie sie schreibt, muß sie eine gebildete vornehme Dame sein. Du siehst - also nachträglich noch das schönste Reiseabenteuer. Ich setze dieses Kartenschreiben einmal fort; denn ich habe gelungene Unterhaltung dabei und wer weiß - - - . Ich habe mich als L. d. R. ausgegeben. Sie fragt darauf an, ob das "Lehrer der Reisekunst" heißen soll. Ich schrieb: Warum sie nicht gleich "Leberknödel der Rheinpfalz" daraus gemacht hätte. So treiben wir unsern Nek. - Ich habe eben meine vierwöchigen Ferien und bin noch bis 15. Okt. daheim. Meine Eltern waren ganz verwundert über mein gutes Aussehen. Morgen in
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acht Tagen ist Heuchelheimer Kirchweih und da wird ganz gehörig gefeiert. Eugen Hack fährt mit hin. Die Kirchweih wird wohl lustig werden; denn in der Vorderpfalz hat es dieses Jahr sehr guten Wein gegeben und der "Neue" wird schon seine Schuldigkeit tun und die Mädels vom Kleeblatt erst! Die tun ihre Schuldigkeit erst recht. Wenn ich nur "etwas" hier hätte. Du könntest deinem nächsten Briefe "welche" beilegen; dann vorzüglich! Nun noch etwas Ernstes! Ich habe am 31. August eine Schulvisitation durch den Bezirksoberlehrer gehabt. Diese ist sehr gut ausgefallen. Hier einiges aus dem Prüfungsbescheid: Registratur und Hefte sind in bester Ordnung. Die Fenster sind
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mit Blumen geschmückt. Zahlreiche [illegible] karten, schöne Punkte des Pfälzer Landes darstellend, zieren die Wände. Der Lehrer zeigt künstlerischen Sinn. Er ist um 3/4 7 Uhr, vor den Schülern, im Schulsaale und bereitet alles für den Unterricht vor. Die Hausaufgaben waren sorgfältig ausgeführt und schön geschrieben. Im Unterricht herrschte immer gute Aufmerksamkeit. Die biblische Geschichte wurde gut erklärt und von den Schülern frei nacherzählt. u.s.w. Das Gesamturteil: Die Schule macht einen guten Eindruck. Man sieht der Lehrer ist gewissenhaft, arbeitet mit Lust und Liebe, auch mit Geschick. Ich habe
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das Vetrauen zu ihm, daß er sich zu einem tüchtigen Lehrer emporarbeiten wird. Die Folge dieses Prüfungsbescheides ist, daß ich Lehrer an der Taubstummenschule in Frankenthal werden könnte. Ich habe noch 14 Tage Zeit zum Entschluß. Ich habe Erkundigungen über das Leben dieser Anstalt eingezogen und erfahren daß der Dienst dortselbst sehr schwer ist. Schon der Unterricht an sich ist schwer und dazu käme noch ein Beaufsichtigen der Kinder von morgens früh bis abends spät. Ich habe mir die Sache überlegt und werde nicht hingehen; denn meine Gesundheit würde darunter Not leiden. Zudem steht mir ja später, wenn ich mich vollständig ausgeheilt habe, dieser Weg immer noch offen. Meinst du nicht auch so? Ich habe eben eine leichte, gute Schule und in der bleibe ich. - Lasse bald etwas hören.
[Left margin:] Mit herzlichen Grüßen und Küssen dein dankbarer
Neffe Eugen
[Top margin, upside down:] Viele Grüße an alle, besonders Frau Liba und Lizzi!
Transcribed by Barbara Baeuerle
Callbach, September 23, 1911
My dear Uncle! I would have loved to write you a letter to France had I only known your address; but now that I know that you are back safe and sound, I will not wait any longer. I happily returned home and the dear cloverleaf (meaning four people) welcomed me with joy. I had to tell them a lot, of course, and even now they won't leave me alone. Everyone wants to hear each and everything. I have already held some lectures in schools and at conferences
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and the citizens of Heuchelheim expressed the wish that I organize several family evenings throughout the winter. I have started on the written elaboration of my journey, with me depicting the trip in well-rounded pictures. I will try and perhaps have it published in a newspaper. I will then send it to you on a regular basis. The fact that you always remember me at the end of your journey has made me very happy and I thank you very much for your dear postcards. I did get the ones from Paris and Versailles. I am not at all surprised to hear that some of your correspondence was lost, as I believe to already have gone through
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the same experience as well. My journey, which I was able to enjoy in your company thanks to your love for me, dear Uncle, will stay with me forever. My health has improved tremendously because of it and I now feel fine and strong; even my dear Lisabeth marvels at my "courage" and my "spirit of adventure". I really have to thank you for the advice you gave me; for you are as if reborn and any tendency toward dreaming and melancholy is gone. With my next letter I am going to send you a card with a photo of me and Lisabeth, which was taken soon after my
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return back home, and likewise I will send you my picture from Venice. I do not have your photo - we talked about you meaning to send it. - I received a postcard with her photo from Alice in Interlaken. I wrote back one more time, but - the end! Can you still remember, dear Uncle, that we read the name E. Schultz - Berlin Schöneberg on the Heimwehfluh (proper name, meaning: Cliff of homesickness), and above it it said: Picture postcards will be answered? I wrote from Heuchelheim, and this E. Schultz turns out to be a wealthy 25-year-old Erna from Berlin. She wrote cards to me from Sylt (a seaside resort) and from the Dolomite Mountains, where she is staying right now.
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Looking at her handwriting, and also at the way she writes, she must be an educated genteel lady. You see - even in retrospect the most delicious travel adventure. I am continuing this writing of postcards for the time being; the reason being, I am wonderfully entertained, and who knows - - - . I gave my name as L.d.R.. Now she asks me if that stands for "Teacher of the Art to Travel". I wrote back: Why didn't she already turn it into "Liver dumpling from Rhinish Palatinate". Thus we tease each other. - At the moment I have my four week vacation and will stay at home until Oct. 15. My parents were quite astonished at my healthy appearance. Tomorrow,
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eight days from now they are having the Heuchelheim Fair, and they surely know how to live it up. Eugen Hack is coming, too. The fair is going to be fun; because the Vorderpfalz [proper name, meaning: front part of the palatinate] has harvested a very good wine this year, and the "new one" is sure to do its job, and then even more the clover leaf girls! They will have even more of an effect. If only I had "something" here. You could include "some" in your next letter; then delicious! Now on to something serious! On August 31st I had a school evaluation by the senior district teacher, and it went very well. Here are some extracts from the evaluation record: The registry and notebooks are in excellent order. The windows have
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flower decorations. Numerous [illegible] postcards depicting beautiful spots of the Palatinate countryside adorn the walls. The teacher displays a sense of artistry. He reaches the schoolroom at 6.45 am, before his students, and prepares everything for the classes. Homework is done diligently and in nice handwriting. The classes were always characterized by avid attention. The story of the Bible was explained well and retold freely by the students. etc. The overall judgment: The school leaves a positive impression. It is obvious that the teacher is conscientious, that he works with pleasure and love, but also with skill. I trust
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that he will work his way up towards a proficient teacher. The consequence of this evaluation record is that I could now get a job at the school for the deaf and dumb in Frankenthal. Before I decide, I still have 14 days. I retrieved some information about life at this school and heard that working there is in itself very tough. Even just teaching the classes is hard, and added to it would be the job of overseeing the children from early morning until late at night. I mulled it over and will not take the position; it is because my health would suffer from it. And anyway, this path will still be open to me at a later time, once I have fully recuperated. Don't you think so, too? Right now I have an easy, good school and here is where I am going to stay. - Please write again soon.
[Left margin:] With sincere regards and kisses your grateful nephew Eugen
[Top margin, upside down:] Many greetings to everyone, especially to Frau Liba and Lizzy!
Translated by Barbara Baeuerle