Heuchelheim, den 14. III. 1913
Lieber Onkel!
Geld und Bilder habe ich erhalten und danke ich Dir dafür. Das Bild, auf welchem Du mitten unter der Menge Volkes stehst, hat mir eine gewisse Scheu aufgedrängt. Dunkele Ahnungen machten sich in meinem Innern bemerkbar. Ich sah Deine Erhabenheit, Deine hohe Stellung. Ich dachte mir die Menschenmenge lebend, ich hörte den Beifallsturm, den Jubelruf, der Dir von den Zuhörern auf den Sitzplätzen unten entgegenströmte. Ich mußte mich unwillkürlich mit Dir vergleichen - Meine Stellung und Deine. Eine tiefe Beklommenheit ergriff mich, nicht Neid, sondern schmerzliche Freude und Wehmut. Voller Siegeshoffnungen schriebst Du[new page]
mir dereinst, wenn ich den Kaiserpreis erringe, dann wollen wir das und das tun. Ich legte diesem Schreiben keinen großen Wert bei, sondern meine innere Stimme sagte mir damals: Wenn Dein Onkel siegt, so wird ihn die Menge mit sich fortreißen, größere Aufgaben werden sich ihm in der angesehernen Stellung entgegenstellen, er wird recht wie ein Gott - er wird sich seiner Schwester Sohn nicht mehr erinnern, er wird sich Dir entfremden. Dies war es, diese Scheu, die mir jedesmal die Feder aus der Hand warf, wenn ich einen Brief an Dich zu schreiben begann. Was ich vorahnend vorausgesehen - das wird kommen und der Anfang dazu ist gemacht in Deiner Verlobung. Kurz war Deine Nachricht und ich wußte nicht, ob ich nicht ebenso kurz antworten und gratulieren sollte. Voll Freude und Jubel konnte ich keinen Brief an Dich richten - da hätte ich gelogen. Ich habs mehrmals versucht und konnte keinen Brief zu Ende bringen. Ich fühlte, ich muß alles in mir reifen lassen, muß ruhiger und besonnener werden, muß meine [end page]
[new page]
innere Ruhe wieder erlangen. Ich bin nun wieder ich selbst, habe mich zu mir zurückgefunden. - Es waren stürmische Tage, schlaflose Nächte, die ich durchlebt habe. Erinnerungen stiegen in mir auf, frohe und heitere, trübe und ernste - meine Jugendzeit. Ich dachte zurück an einen Morgen, an welchem ich von meinem Onkel in der Otterbergerkinderschule abgeholt wurde; wie ich von ihm bei Zuckerbäcker Krauß eine Tüte voll Konfekt bekauft kam (kleine rote Zuckerpfeifen waren dabei) und wie ich ihn dann immer sah - mit diesem Zeichen der Liebe nahm er Abschied von einem kleinen Kind - dem Kind seiner Schwester. - Ein alter Mann, in grauem Haus erzählte mir von ihm, grämte sich um ihn und starb. Eine Schwester sprach von ihm, liebte ihn und weinte um ihn und die Schwester erzählte viel, viel von dem Manne über dem fernen Meere. Wenn wir abends in einem weltentlegenen Dörfchen beim Schimmer der Lampe einen Brief von Dir öffneten, da strahlten Mutters Augen und sie erzählt, wie <?nur?> die Liebe einer Schwester erzählen kann. "Was wird er jetzt tun." Wird er denken,
[new page]
Mutter, daß wir seinen Brief jetzt lesen? So wurde in mir die Liebe geweckt zu dem Manne, den ich kaum kannte. Alle um mich starben. Fremde Leute kamen um mich, wurden mir Mutter, Großeltern und Verwandte - da war die Zeit gekommen, da mich Deine Liebe zu Dir rief über das weite Meer. Und auch mich trieb die Liebe zu Dir, meinem Einzigen, was mir noch blieb. Ohne Furcht und ohne Heimweh nach daheim eilte ich zu Dir - aber die Augen voll Trànen, als ich trüben weg ging. Es war etwas, was in enger Stille in mir schlief, lebendig geworden und zur vollen Klarheit gekommen - Du und ich, wir gehören zusammen. Und mag auch der alt böse Feind noch so stürmen und wüten - nicht nur um Dich, auch um mich. Wie hat man es versucht, mich von Dir weg zu bringen - durch alles - . Ich hielt fest. Ich kann es nicht ausdenken, wie man mich belachen wird, wie man triumphieren wird, wenn man die Nachricht von Deiner Verlobung erfährt. Onkel, ich bitte Dich, schreibe es nicht heim.
[new page]
Onkel, ich liebe Dich. Aber auf Deine Liebe zu mir, auf die darf ich nicht mehr rechnen, habe kein Recht mehr darauf. Die gehört jetzt jemand anders, muß ganz und völlig ihr gehören. Es beginnt wie neues Leben für Dich. Du hast den Flug zur Höhe in Deiner Laufbahn genommen. Und weißt Du, denk an die Schweizer Berge, wenn man so hoch oben ist, da kommt einem all das, was unten liegt, so klein vor, man sieht es kaum, flüchtig schweift der Blick darüber weg. Deine, Dich umgebende Welt ist eine andere geworden. - Und meine? Sie auch und ich selber mit. Nun bin ich, ich selbst - eine Wendung in meinem Leben ist gekommen und ich glaube daß es gut so ist. Ich bin zum Bewußtsein meiner selbst gekommen und ich spüre wie Kraft meine Muskeln und Sehnen spannt. Hinweg mit den Idealen - Lug und Trug, die man in dieser Welt nicht gebrauchen kann. Träumer kann man in dieser Welt nicht gebrauchen - sie gehen dahin. Und darum vorwärts, aufwärts!
[new page]
Ich schreite hinweg über alles, was mir im Wege ist, dränge es zurück, kenne es nicht mehr. Die Verhältnisse sind gar oft stärker als der Mensch und auch sie reißen mich mit fort. Ich kenne die Familienverhältnisse nicht, in die Du kommst - Deine Verlobungsnachricht war kurz und kalt und auch vorher schriebst Du nichts - und in diesen Kreisen könnte ich nur eie Hindernis für Dich sein und Du würdest Dich des armen alleinstehenden Menschen schämen. Und darum, Onkel, vergesse mich. Andere Bande knüpfen Dich jetzt fester. Du hast Liebe, nach der Dein Herz lechzte, und Heimat und Familie gefunden und, wie ich hoffe, damit auch die Ruhe, den Frieden Deiner Seele. Was kann ich Dir jetzt noch sein? Nichts mehr. Und auch ich fühle mich frei. Du wirst so manches mit diesem Schritt von Dir geworfen haben, machs auch mit mir so und - sei glücklich!
Mit herzlichem, treuem Gruß!
Deiner Schwester Sohn.
Transcribed by Barbara Baeuerle
Heuchelheim, March 14, 1913
Dear Uncle!
Money and pictures did arrive and I thank you for them. The photo where you are standing in the midst of a crowd forced me to feel a certain shyness. I felt dark forebodings stirring in my inner self. I saw your sublimity, your high position. I imagined the crowd to be alive, I heard the storm of applause, the shout of cheer which was rushing towards you from the spectators on the seats below. Involuntarily, I had to compare myself to you - my position and yours. I was gripped by a profound uneasiness, not envy, but painful joy and wistfulness. You wrote to me, definitely hoping to be the winner,
[new page]
and that was way back, should I win the emperor's prize, we will do this and that. I did not place a lot of emphasis on this letter, but an inner voice told me back then: If your uncle wins, the crowd will sweep him along, there will be greater tasks waiting for him in that more highly respected position, he will become quite like a god - he will no longer remember his sister's son, he will become estranged from you. It was this, this shyness that ripped the pen from my hand each time I began to write a letter to you. What I foresaw as a premonition - it will come to pass, and the first step has been made in the form of your engagement. Your message was brief, and I was unsure if I shouldn't answer just as briefly and congratulate you. I could not write a letter to you filled with joy and jubilation - I would have been lying. I tried it repeatedly and wasn't able to finish any of those letters. It seemed to me that I have to allow everything inside me to mature, that I have to calm down and become more level-headed, have to regain my
[new page]
inner peace. Now I am myself again, have found my true self again. - I went through stormy days and sleepless nights. Memories kept coming back, happy and serene ones, sinister and serious ones - my youth. In my thoughts I traveled back to one morning when I was picked up by my uncle from the Ottenberger child care center; how he bought me a bag of sweets from Krauß, the confectioner (there were little red sugar pipes in that bag) and how I kept remembering him from then on - it was with this sign of love that he took his leave from a small child - his sister's child. - An old man in a grey house told me about him, grieved for him and died. A sister talked about him, loved him and cried for him and the sister talked much, much about the man across the distant sea. When we would open one of your letters in a remote little village by the weak gleam of a lamp, mother's eyes lit up and she tells, as only a sister's love can tell: "What do you think he is doing just now?" Will he think
[new page]
mother, that we are reading his letter at this moment? This way the love to this man, whom I barely knew, was awakened in me. All the people around me passed away. Strange persons came instead, turned into mother, grandparents and relatives - that is when the time came to hear your love calling out to me across the distant sea. And I, too, was driven by my love for you, the only one left to me. I rushed to you without fear and without longing for home - but my eyes filled with tears when I had to leave you again. Something which had been asleep in an enclosed silence within myself had come alive and ripened to full clarity - you and I, we belong together. And even if the old evil fiend tries to storm and rage as much as he likes -- and not only round you, but also round me. How much have they tried to get me to let you go - through everything - I held fast. I cannot imagine how I will be ridiculed , how they will triumph when they get the news of your engagement. Uncle, I beg you, don't tell them at home.
[new page]
Uncle, I love you. But it is your love for me that I can no longer count on, that I have no more right to. That love belongs to someone else now, has to belong to her fully and entirely. It is like a new life beginning for you. You have taken the flight to a higher level in your career. And you know, remember the Swiss mountains, when you are so high up on a mountain, everything down there seems so small, you barely see it, your glance sweeps over it carelessly. Your world, which surrounds you, has changed. - And mine? It, too, has changed, and so have I. Now I am myself, a turning point in my life has come and I believe it is for the good. I have become aware of myself and I can feel how my muscles and tendons are energized. Let's get rid of ideals - they are lies and deception which are of no use in this world. There is no place for dreamers in this world - they perish. And therefore forward, upward!
[new page]
I walk right across everything that is in my way, push it back, do not recognize it any more. Quite often the circumstances are more powerful than man, and they are now sweeping me away with them as well. I do not know the family situation that you are about to enter - the news of your engagement was brief and cold and before that you didn't write anything either - and in those circles I could only present an obstacle for you and you would be ashamed of that poor unsupported human being. And therefore, Uncle, forget about me. There are different bonds that are now holding you faster. You have found love, which your heart had been yearning for, and a home and a family, and I hope, with these also peace and quietude for your soul. What can I be to you from now on? Nothing. And I, too, feel free. With this decision you will have rid yourself off quite a few things, so go and do the same with me - and be happy!
With sincere, loyal greetings!
Your sister's son.
Translated by Barbara Baeuerle