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Knittelsheim, 10.Mai 1925.
Lieber Onkel! Liebe Tante!
Es ist heute in Deutschland der Tag, der der Mutter geweiht und geheiligt ist. Wo die Mutter lebt, schmükken den Tisch Blumen, Kinder des Frühlings; wo sie in kühler Erde ruht, eilt der Schritt des Kindes hin zur heiligen Stätte, um in Dankbarkeit die Hände zu falten. Auch ich hatte solch‘ ein Plätzchen, allerdings von Dornen und Disteln überwuchert, aber doch mein Plätzchen, den Ort, der meine Tränen gesehen, als man dort die Mutter versenkte, der meine Tränen gesehen, die ich gar manches mal im harten Lebenskampfe, verlassen von allen – dort geweint. Der Ernst des Lebens hat mich in harter Schule zum Manne gemacht und die Tränen sind seltener geworden und – gottlob – habe ich mich nach harten Schicksalsschlägen hindurchgerungen. Das Grab meiner Mutter ist nicht mehr und damit ist mir das Letzte, was mich mit der Familie Haas verband genommen. Über irdischen Besitz hat Vater verfügt. Ich habe von all dem, was einst das Glück meiner Jugend ausmachte, nur noch mich selbst. Und dabei mir zur Seite stehend meine liebe Frau und mein
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braves Helenchen, das jetzt als fleißige, wohlerzogene Schülerin vor mir sitzt in der Schulbank. Ihr habt ohne mein letztes Wissen meine Mutter nach Otterberg verlegt, wie mir an Ostern von Callbach mitgeteilt wurde. Gewiß es ist von Euch eine schöne Tat, den wenigen Überresten der Mutter eine würdige Ruhestätte gegeben zu haben. Ob aber der Weg der richtige war, damit will und kann ich nicht rechten; aber denkt doch einmal darüber nach, ob das für einen Sohn, ein Kind einer Mutter nicht ein schwerer Schlag ist, nach Wochen zu erfahren: Deine Mutter ist nach Otterberg gebracht worden, ohne daß du Kenntnis von der Überführung hattest. Ich betrachte diese Tat, so edel sie ist, als eine schwere Kränkung und Zurücksetzung, so schwer, daß sie all das, was je zwischen mir, meiner Frau u. meinem Kinde an Kränkung Euch gegenüber widerfahren sein dürfte, aufwiegt – bei weitem aufwiegt; denn das Heiligste, was ein Kind besitzt, ist doch die Mutter. Das wirst auch Du, verehrte Tante, am heutigen Tage durchleben, wenn Du an Deine Mutter denkst, die weit über dem Weltmeer in fremder Erde – allerdings ihrer Heimaterde – ruht. Beim Gedenken an Deine Mutter beschwöre ich Dich, [insertion:]Dich[/insertion] einmal in die Seele eines Menschen zu versetzen, der in seinem bitter harten Lebenskampfe nichts als Zurücksetzung erfahren hat. Euere Tat ist schön – für mich aber wertlos, solange wertlos, als sich an dem neuen Grabe meiner Mutter Glieder einer
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Familie fremd gegenüber stehen. Mich verbindet mit der neuen Ruhestätte kein Erinnern, höchstens Bitternis und Herzeleid. Daß ich unter solchen Voraussetzungen niemals an diese Stätte treten kann, werded ihr verstehen und ich weiß, daß meine Mutter, mein gutes treues Mütterlein, sich dort nicht wohl fühlt, wenn Menschen, die sie gern hatte und dazu gehören auch unserer Familienangehörigen in Otterberg, sich an ihrem Grabe fremd gegenüberstehen. Ich meine das Grab dieser Frau, die Gerechtigkeit und Liebe und Treue selbst war, müßte solche Gewalt besitzen zu einen, zu versöhnen, anstatt zu entzweien. Was an meinem Teil liegt, will ich tun, was in meinen Kräften steht und deshalb seien mir nachfolgende Ausführungen gestattet. Den Mut dazu, dieses zu tun, gibt mir auch Euer Besuch in Speyer und eine Unterredung mit Familie Zitt.
Der Grund alles Ungemachs scheint mir der Brief zu sein, den ich, hochwerte Tante, nach Deiner Verheiratung an Dich schrieb. Ich hatte in Antwort Deines lieben Briefes Dich damals gebeten, mir über Dich zu schreiben und meinte damit, Du solltest mir ein Stückchen Deiner selbst geben, ein Stückchen Deiner Persönlichkeit; denn jeder Brief ist ja mehr oder weniger der Ausfluß einer Persönlichkeit – ist er das nicht, dann ist er kalt, gefühl und wertlos. Wir standen uns unbekannt gegenüber – dazwischen das Weltmeer – und es muß Dir doch denkbar sein, wie meine Seele danach verlangte, die Frau kennen
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zu lernen, die meinem lieben Onkel Lebensgefährtin geworden war – Lebensgefährtin dem Menschen, den ich neben meiner Mutter am meisten liebte. Du hast diese, meine Frage: Wer bist Du – schreibe mir über Dich selbst – materiel aufgefaßt, im entgegengesetzten Sinne. Liebe Tante, ich versichere Dir heute am Ehrentage meiner Mutter, an dem Tage, der mir heilig ist: die Auffassung, wie Du sie hast, lag mir in meinem Briefe fern. Ich gebe zu, daß die Ausdrucksweise vielleicht eine ungeschickte war, aber Du hast in dieselbe das Gegenteil davon hineingelesen, wie es gemeint war. Du hast mir bei Deinem Besuche in Knittelsheim die Sache vorgehalten und ich habe Dich vom Gegenteil zu überzeugen gesucht. Es ist mir nicht gelungen; denn das geht aus der Wiederholung der Anklage bei Familie Kruppenbacher hervor. Wenn Du mir meine Ausführungen nicht glauben willst, so kann ich es nicht ändern. Mehr als mein Mannes- und Ehrenwort kann ich Dir am heutigen Tage nicht geben.
Liebe Tante! Du kamst mit einem Vorurteil nach Knittelsheim und dieses Vorurteil ist der Grund zu allen Mißverständnissen, die ich nicht wiederholen will. – Größte Freude hatte es uns bereitet, als wir hörten, daß Ihr zum zweiten Male in Deutschland weiltet und ich habe damals sofort Antwort geschrieben. Die folgenden Briefe von Onkel aus Würzburg waren so herzlich, daß ich glücklich war, daß alles Vorgefallene vergessen war. Ich schrieb zwei große Briefe und wie ich sie abschicken wollte, wurde wegen
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der Rheinsperre die Annahme bei der Post verweigert. Erst nach einigen Wochen konnte ich die Briefe über den Rhein schmuckeln lassen und der deutsche Mann, der sie unter größter Gefahr hinübergebracht hat, hat sie bestimmt in Rheinsheim aufgegeben. Die Briefe enthielten wegen ihres pol. Inhalts keinen Absender und den Ort Knittelsheim habe ich sogar noch herausgeschnitten. Wenn Euch die Briefe nicht erreicht haben, konnten sie niemals an mich zurückgelangen. Sie gingen an die postlagernde Adresse in Würzburg. Ich hatte Euch in einem Briefe um Hilfe für Versorgung meines Möbels gebeten; denn ich befand mich – aus Gründen, die ich hier nicht schildern kann – in größter Ausweisungsgefahr. Hätte später unter der Separatistenzeit die Geschichte noch zwei – drei Tage angedauert, so wäre ich, wie mancher der an meiner Seite stand, erledigt gewesen. In Knittelsheim konnte die stark betriebene Separatistenherrschaft nicht aufleben!!1
Also diese Briefe blieben ohne Antwort - warum blieb mir bis zum heutigen Tage unaufgeklärt. Eine Antwort oder Aufenthaltsangabe von Euch habe ich nie erhalten. Die Todesanzeige von meinem Vater kam unbestellt zurück. Es kamen Karten aus Italien und Schweiz an Herrn Zitt – an mich nichts – kein Gruß! Das war bitter für mich. Ich hörte von fremden Menschen, daß Ihr in Otterberg gewesen seid zur Weihnachtszeit. Keine Nachricht – nichts – gar nichts – also: und das ist
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meine Meinung bis zum heutigen Tage und die Grabangelegenheit bestärkt mich darinnen: Ihr habt mit uns, wie mit den anderen Angehörigen, gebrochen und wollt nichts mehr von uns wissen. Was soll ich tun? mich Verzeihung bittend, wenn kein Verschulden vorliegt, wenn ich mir eines solchen nicht bewußt bin – winden und darum betteln? Als deutscher [underline*2:] Mann [/underline*2] gebe ich am heutigen Ehrentage der Mutter dieser die Ehre und betrachte es als meine Pflicht, um der Mutter willen, Aufklärung zu schaffen in einer Sache, über der viel Mißverständnis zu ruhen scheint.
Ich bitte Euch, verehrter Onkel und liebwerte Tante, mein Annäherungsversuch nicht als Aufdringlichkeit aufzufassen; denn nichts liegt mir ferner als dieses.
Eine geheime Fehme waltet seit zwei Jahren über meinem Haupte, eine Verurteilung und Bestrafung für etwas, wofür ich die Gründe nicht weiß und weshalb ich mich nicht verteitigen kann.
Ihr habt gebrochen mit mir und habt mich als Kind der Mutter bei deren Überführung zurückgesetzt.
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Ob dieses [underline*2:] recht [/underline*2] ist: Eine Verurteilung ohne Verhör – Ein Hinwegnehmen der Mutter, ohne Kindeswille – – –, das sind sittlich inhaltsschwere Taten und diese muß jeder mit seinem Gewissen ausmachen.
Ich bin heute ein Anderer geworden, als der ich war. Die Schule des Lebens hat mich hart mitgenommen. Der Vater hat mich enterbt. Onkel und Tate haben gebrochen mit mir, viel Bitternis habe ich erfahren müssen – aber ich bin zum Manne geworden – „Ich“ bin „Ich-Selbst“ und daß ich es geworden bin, das verdank ich auch Euch, ihr einst mir so Lieben – Tante und Onkel.
Welche oder „ob“ eine Antwort kommt, von Euch, weiß ich nicht. Erschüttern kann mich nichts mehr; denn meine Nerven sind gestählt, gestählt im Kampfe mit dem Schicksal, gestählt auch im Kampfe um Deutschlands und der „Pfalz-Heimat“ Ehre.
Meinen heutigen Brief aber schrieb ich, „Weil die Mutter, an ihrem Ehrentage ihrem Kinde ruft.“
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„O bleibe treu den Toten, die lebend Du betrübt; O bleibe treu den Toten, die lebend Dich geliebt. Sie starben, doch sie blieben Auf Erden wesenlos, Bis allen ihren Lieben der Tot die Augen schloß. Indessen Du Dich herzlich In Lebenslust versenkst, Wie sehnen sie sich schmerzlich, daß Ihrer Du gedenkst! Sie nahen Dir in Liebe, Allein Du fühlst es nicht; Sie schauen Dich an so trübe; Du aber siehst es nicht. Die Brücke ist zerfallen; nun mühen sie sich bang Ein Liebeswort zu lallen, das nie herüber drang. In ihrem Schattenleben Quält eins sie gar sehr: Ihr Herz will Dir vergeben, Ihr Mund vermags nicht mehr. O bleibe treu den Toten, die lebend Du betrübt; O bleibe treu den Toten, die lebend Dich geliebt!“ Theodor Storm.
Mit herzlichem Gruß, auch von Frau und Kind! Eugen Haas.