Author
Lisbeth Rasp (Haas)
Lisbeth Rasp (Haas)
[page 1:]
Knittelsheim, 27. I. 1920.
Lieber Onkel! Liebe Tante!
Obwohl meine letzten Briefe jetzt noch auf dem Wasser schwimmen, lasse ich heute schon wieder einen Brief folgen. Veranlassung hiezu gibt mir der oben abgedruckte Reichsratsbeschluß vom 27. Nov., den ich in den letzten Tagen meiner Zeitung entnommen habe. Vielleicht gebt Ihr die Ausschnitte deutscher Zeitungen, damit auch andere Deutschamerikaner daraus Nutzen ziehen. Ich hatte in meinem letzten Briefe, lieber Onkel, dich um etwas Tabak gebeten. Schick mir nur ein geringes Quantum und auch nur wenige Zigarren; denn die Bestimmungen über die Verzollung sind wohl klar; aber dennoch ist die Handhabung verschieden. So hörte ich vorgestern, daß in Speyer ein Herr -- er konnte es als Kriegsgewinnler allerdings vertragen -- für 500 Mark beste amerik. Zigarren, von denen 125 gestohlen waren, 1400 M Zoll zahlen mußte. Schuld an diesem hohen Zoll ist die schlechte deutsche Valuta. Unsere Mark ist jetzt noch 2 Cent = 8 p wert; heißt das etwa anders als Deutschland ist bankrott? Es ist schon ein schlechter Bankrot, wenn nur 8% heraus bezahlt werden können. Jeden-
[page 2:]
falls wird aber der Konkurs nie angesagt werden, obwohl auch wieder gegenteilige Meinungen laut werden. Deutschland wird wohl Jahrzehnte ein kümmerliches Dasein fristen -- zu gesund zum Sterben, zu krank zum Leben. In den Städten ist die Not riesengroß. Wie ich soeben höre, mußte in Ludwigshafen die "Großen Fabrik", die Anilinfabrik, wegen Kohlenmangel geschlossen werden mit anderen Worten -- Tausende von Menschen sind brotlos. Dabei führen die Bergarbeiter im Ruhrgebiet wilde Kämpfe um die Streitfrage, ob man am Tage 5 oder 6 Stunden schaffen soll, drohen die Eisenbahnen mit Niederlegen des gesamten Verkehrs, verlangen die Bauern und Geschäftsleute unerschwingliche Preise (Siehe beilagen!) Ein Keil treibt den andern. Wir Beamte, die wir früher die Säulen des Staates waren, sind jetzt zu Staatsbettlern geworden und wir in der Pfalz sind ganz schlimm daran; denn bei uns herrscht "Ausverkauf" zu täglich sich steigernden Preisen, die aber für Ausländer immer noch niedrig sind. Wir aber haben das Nachsehen. Doch ist man uns entgegengekommen und hat uns ab 1. Januar eine Besatzungszulage von monatlich 100 M gegeben. Auch sollen unsere Gehälter um 150% erhöht werden. Im Reich ist schon Beschluss gefaßt, aber in Bayern ist keine Deckung vorhanden und will man da nur 50% geben. Bin gespannt, wie sich alles noch gestaltet und wie lange es noch dauert bis wir aus diesem Elend herauskommen. Immer wieder müssen wir mit herzinnigen Dank hervorheben, wie Ihr uns mit Eurer reichlich ausgestatteten Kiste aus der Not geholfen habt. Die Kleidersorgen sind wir jetzt doch los und können unser Geld, das wir monatlich einnehmen, für Lebensmittel verwenden. Gott sei Dank, bekommen wir für unser kleines Helenchen viel Milch, sodaß dieses keine Not hat und gut gedeiht. Sie hat backen wie ein Orgelpfeifer und ist munter und guter Dinge. Wir zahlen allerdings dafür (täglich 3 lt) monatlich 108 M. Fleisch bekommen wir sehr wenig; aber ich habe mir Hühner angeschafft und Junge gezogen, sodaß ich jetzt einen Stamm von 10 Stück habe. Heute habe ich 5 Eier hereingeholt. Ein Ei kostet 1,50 M - 2 M. Denkt einmal 5 Eier -- welch' ein Reichtum! Vor 20 Jahren kaufte man die bei uns zusammen für 25 p. Große Freude hat heute auch mein liebes Frauchen. Sie hat Geburtstag heute, ist 25 Jahre alt. Da hat sie einen "Kuchen" gebacken. Das Mehl -- feines Weißmehl -- hat uns ein hiesiges Bauernfräulein, daßs auf den gleichen Tag, wie Lisabeth geboren und eine Freundin
[page 3:]
von Lisabeth ist, geschenkt. Dazu kochen wir einen guten Kaffee -- die Bohnen hiezu hatte ich als Geschenk unter den Weihnachtsbaum gelegt -- und dann leben wir heute wie Gott in Frankreich. Den Humor wollen und dürfen wir nicht aufgeben. In dieser schweren Zeit, die über Deutschland jetzt, schlimmer denn je, gekommen ist, muß man sich von Zeit zu Zeit herausretten aus dem tollen Strudel, muß man gar manchmal eine stille Stunde der Selbstbesinnung finden. Und wenn man uns auch alles nimmt und genommen hat, bis herab auf die Ehre -- eines bleibt doch erhalten, das, was deutsche Männer im Laufe der Zeiten in deutscher Sprache geschrieben und zum Volk geredet haben. So lese ich z. Zt. "Ein Kampf um Rom" von Felix Dahn. Er zeigt uns das gigantische Ringen eines germanischen Volkstammes -- der Gothen -- in fremden Landen. Erzgepanzert schreiten die Recken, aber sie müssen unterliegen und ihr Volk muß zu Grunde gehen. Wenn der Roman für die heutigen Verhältnisse geschrieben wäre, er könnte kein treueres Spiegelbild der heutigen Zeit sein. Mich halten die Worte des siegreichen Narses gefangen, die dem erschlagenen letzten Gotenkönig Teja nach der Schlacht am Vesuv einen Lorbeerkranz auf die Bahre legte, und welche lauten: "Mein ward der Sieg: -- aber ihm der Lorbeer. Da nimm ihn hin! Ob kommende Geschlechter Größeres schauen, steht dahin." Und was liegt doch in dem Liede, des Adelgoth seinen Sohn König singt: "Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt: Wir sind die letzten Goten: Wir tragen keine Krone mit: -- Wir tragen einen Toten. Mit Schild an Schild und Speer an Speer -- Wir ziehen nach Nordlands Winden, Bis wir im fernsten grauen Meer die Insel Thule finden. Das soll der Treue Insel sein, dort gilt noch Eid und Ehre: Dort senken wir den König ein im Sarg der Eichenspeere. Wir kommen her -- gebt Raum dem Schrift -- Aus Romas falschen Tore: Wir tragen nur den König mit - - die Kron ging verloren." -- Das Lied ist ergreifend, um so mehr, wenn man seinen Inhalt mit erlebt, wenn auch in andern Zeiten unter andern Menschen. Wenn ich nicht ist irre hat Frau Musika unter dem Titel: "Gotenzug" ein allgewaltiges Gewerk geschaffen und hast auch du dasselbe mit deinen Vereinen schon aufgeführt. Bei dieser Lektüre, die das Schicksal eines zu Grab gehenden Volkes so ergreifend schildert, findet mein Inneres nicht nur Ruhe vor den polit. Wirrnissen dieser Zeit und dem Kummer über den nationalen Niedergang unseres Volkes, sondern es steigen auch Bilder in der Innerung auf, wenn man mit dem Gotenkönig Totila und dessen Gast, dem Wikingerkönig Harald, an dem Eingang des königlichen
[page 4:]
Zeltes tritt und Italien in glühenden Licht des Sonnenuntergangs mit betrachtet und dabei aus Totilas Mund die Worte vernimmt: Sieh dies Land, unvergleichlich an Herrlichkeit des Himmels und des Bodens und der Kunst: - siehe diesen Tiberstrom von glücklichen, jubelnden, schönen Menschen bedeckt, schau' diese Büsche von Lorbeer und Myrten: blicke hin auf die Säülenpaläste, die dort von Rom her im Abendstrahl schimmern, auf die hohen Marmorbilder auf diesen Stufen!" Ja, lieber Onkel, durch dich durfte ich all diese Herrlichkeiten schauen, und jetzt, gerade jetzt in dieser Zeit erinnere ich mich gern des vielen Schönen, das ich auf der Welt schon gesehen und erlebt habe. Ist es doch schön von Erinnerungen zehren zu können und mein liebes Weib sitzt bei mir gar manchmal im Dämmerlichte am Ofen, der, dank meiner Voraussicht Holz und Kohlen als Nahrung für diesen Winter hat, und ich erzähle ihr von vergangenen schönen Tagen. Es ist etwas Schönes, um das Glück einer Familie und in dieser Zeit, wo einem das Gemeinsame, das man tragen muss, so recht zusammenschmiedet, gilt ganz besonders das Wort: Mein Haus ist meine Burg. Auch Euch, ihr lieben guten Menschen, möchten wir gern einmal in Eurem häuslichen Leben kennen lernen und wir freuen uns recht, wenn Ihr im kommenden Sommer zu uns kommt und lange bei uns weilt. Wenn die Sonne wieder über die Berge kommt, dann lebt es sich auch wieder leichter, wieder freier, als jetzt in den kalten, nebelreichen Tagen einer traurigen Zeit nationaler Schmag*, Ehrlosigkeit und Schande. Redet man uns auch ein, dass wir Anfang, Fortgang und Ende dieses Weltkrieges auf dem Gewissen haben - mit einem Wort: Schuld an Allem - gut, wir wollen es tragen als Besiegte; aber eins hätte man uns lassen müssen, das was Narses dem gefallenen Gotenkönig Teja gab, den Lorbeerkranz der Ehre. Aber auch die ist genommen und deshalb eröffnen sich dem Deutschen Volke drei Wege: der erste ist voll Sonnenschein und an seinem Ende steht eine prächtige Gestalt mit einer Palme in der einen, mit einem Schilde in der anderen Hand, auf welchem die Worte stehen: Völkerfreiheit, Völkergleichheit, Völkerbrüderlichkeit - Friede. Diesen Weg müssen unsre seitherigen Feinde bauen, indem sie uns die Ehr wieder geben. Der zweite Weg kommt von Osten. Zu gehen brauchen wir ihn nicht. Es kommt ein Untier daraufherangeschlichen und hat ein Schild anhängen, worauf die Worte stehen: Staatsbankrott - Bolschewismus. Das Tier droht uns zu verschlingen und von den zwei Schildwörtern wird das zweite die Folge des ersten sein. Mögen wir vor diesem Weg verschont bleiben; den er führt in Nacht und Grauen nicht nur uns, sondern alle! Ist der zweite Weg schon schlimm, so ist der dritte der der Verzweiflung. Es klirrt von gesprengten Ketten und blitzt von
[page 5:]
Waffen und an seinem Ende steht ein alter germanischer Recke und auf seinem Schilde, seinen Waffen, lesen wir die Worte: "Nichts würdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre." Dieser Weg würde der härteste sein. Daß das deutsche Volk diesen letzten Weg noch Jahrzehnte gehen wird und muß, wenn ihm das erste verschlossen bleibt, wenn es sich vom zweiten noch mit der vorhandenen Kraft zurückhalten kann, ist meines Erachtens in Art und Blut begründet, nicht nur in dem unserer Nation, sondern in dem eines jeden Volks, das in staatlichen Konflikten irgendwann und irgendwo besiegt wurde. Der für die gegenwärtige Zeit am nächsten liegende Weg ist der zweite - weil er uns, so wie die Verhältnisse jetzt liegen, trotz unsrer Gegenwehr, verschlingen muß, weil wir ein der Ehre beraubtes, verarmtes und der Aussaugung preis gegebenes Volk sind. Die zwei andren Wege liegen noch etwas abseits und sind schwieriger zu gehen, weil darauf die entgegengesetzte Willen zweier Gruppen stehen. Der Wille unserer Feinde wird uns nicht Brücken bauen wollen hinüber zu ihnen, zum rettenden Ufer, müßte man sich denn gerade rasch besinnen und das im vergangenen Jahre Geschehen umändern und einen wirklichen Friedensvertrag schaffen. An Stimmen hierzu scheint es nicht zu fehlen. Der Wille der Verzweiflung aber kann in dem zerrissenen Deutschland jetzt
[page 6:]
nicht Wurzel fassen; denn dazu fehlt es an allem; aber es wird kommen allgewaltig, wenn die Masse, die sich gegenseitig noch zerfleischt, eingesehen hat, daß wir Sklaven gewesen sind und in Ketten gehen. Dann wird das deutsche Volk sich nicht mehr einfangen lassen und mit umgekehrten Gewehren heimgehen mit dem roten Bündchen im Knopfloch, betört im wahnsinnigen Glauben an 14 gerechte Punkte, dann wird man nur zwei Punkte kennen, geboren aus der Verzweiflung – Leben oder Sterben, denn es ist eine Tatsache der deutschen Geschichte, daß die Germanen immer in der größten Not durch die Verzweiflung zusammengeschmiedet wurden zur furchtbarsten, allgewaltigsten Tat. Das sind die drei Wege. Ich hoffe und wünsche gern, daß sich uns der erste erschließen möge, der Weg der Versöhnung. Wir Deutsche sind kein hassatisches* Volk und können schnell vergessen und auf diesem Wege würde die Welt wieder zur Ruhe kommen. Die beiden andern Wege wären furchtbar, nicht nur für uns (bzw. für unsere Nachkommen,( was vom 3. Weg gilt) sondern auf für unsere Nachbarn rundum. – Was freuen wir uns auf Euer Kommen im Sommer, können wir da doch unsere Geschichten als "Feinde" - Deutsche u Amerikaner – mündlich austauschen; vielleicht bahnen wir dann den 1. Weg an zwischen unseren Völkern mit unserer Liebe und Herzinnigkeit, die wir als Blut von
[page 6, left-hand margin:] gleichem Blute zueinander haben und mit der wir Euch tausendmal grüßen und küssen als Eure dankbaren "Barbaren" Lisbeth u Eugen u Helenchen
*Footnote, page 4: dialect spelling of 'Schmach'.
*Footnote, page 6: dialect for hasardeur, risk-taker.