Interview und Übersetzung von Betty Schaumburg (English version)
Mein Name ist Sonja Thiele, ich bin 41 Jahre alt und lebe in Bochum, eine große Stadt im Ruhrgebiet, das im zwanzigsten Jahrhundert lange das Zentrum des Bergbaus und der Schwerindustrie war und sich nun seit einigen Jahrzehnten im Wandel befindet — eine sehr dynamische und vielseitige Region. Als Apothekerin in einer öffentlichen Apotheke arbeite ich in einem ganz anderen Bereich, war aber immer schon sehr an Geschichte interessiert. Auch wenn ich mich für die Naturwissenschaften entschieden habe, hat mein Interesse an Geschichte nie nachgelassen — vor einigen Jahren las ich einen Artikel über "online volunteering", wie ich finde, eine gute Möglichkeit flexibel und ohne an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit gebunden zu sein, an Projekten mitzuarbeiten. Das Lösen von Rätseln und das "Entziffern" alter Briefe und Dokumente lag mir von Anfang an — als Apothekerin bin ich an lausige Handschriften gewöhnt — manchmal bekommen wir immer noch handschriftliche Rezepte.
Um Kurrentschrift korrekt entziffern zu können, bedarf es ein bestimmtes Talent für Rätsel — als ich anfing Texte in Kurrentschrift zu transkribieren war mein erster Eindruck: Das ist doch unlesbar! Aber nach weiterer Überlegung wurde mir bewusst, dass es möglich ist, mir das Lesen dieser Schrift selbst beizubringen — es gelang schließlich Millionen von Menschen im 19ten Jahrhundert! Denn „Übung macht den Meister“ und mit Hilfe eines Kurrentschriftmusters erschloss ich mir den Inhalt der Briefe. Natürlich ist es von Vorteil eine deutsche Muttersprachlerin zu sein, da ich mir so Wörter und Buchstaben kontextuell erschließen und ergänzen kann. Jeder Brief eines neuen Verfassers stellt eine neue Herausforderung dar — wenn ich eine Reihe Briefe derselben Person transkribiere, braucht es ein paar Seiten bis ich mich mit den Eigenheiten der Handschrift vertraut gemacht habe . Als Auszubildende zur Apothekerin genoss ich es, ein Praktikum in einer Apotheke in den USA im Zentrum Iowas zu machen — dadurch steigerte sich mein Interesse an Projekten amerikanischer und deutsch-amerikanischer Immigrationsgeschichte.
Insbesondere Briefe zeigen Geschichte von einer anderen Perspektive, denn sie reflektieren die hautnahe Realität einer Person, die zu der Zeit am Leben war — die Menschen in diesen Briefen leben in einer anderen Welt, geprägt von anderen Gewohnheiten und Gebräuchen; sie folgten anderen sozialen Normen und glaubten an andere Dinge. Was am deutlichsten von unserer modernen Weltanschauung heraussticht, ist die Gesellschaftsstruktur des 19ten Jahrhunderts mit ihren Regeln und Normen. Zum Beispiel war die Rollenverteilung von Mann und Frau viel ausgeprägter und viele wohlhabende Familien machten Gebrauch von Hausdienern. Und trotzdem gibt es Vieles was so familiär scheint — die allgemeinen Beschreibungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, Klatsch und Tratsch, und alltägliche Probleme, vor denen wir auch heute noch stehen. Menschen kümmern sich um ihre Freunde und Familie, sorgen sich um ihre Kinder und ihre Zukunft, planen Feste und Feiertage, und beschweren sich über das Wetter, Geldprobleme, und Gesundheit.
Briefe der Vergangenheit stellen eine interessante Quelle für Forscher in mehreren Bereichen dar — zum Beispiel ermöglichen sie es Linguisten die Entwicklung der Grammatik und Rechtschreibung zu analysieren. Aber vor allem sind Briefe für Historiker von großer Bedeutung, da sie die Vergangenheit aus einem anderen Blickwinkel zeigen: von dem Standpunkt einer bestimmten Person. Kommentare und Evaluationen von Zeitgenossen helfen Forschern den weiteren Überblick allgemeiner Geschehnisse zu verstehen — beispielsweise Marie Hansen Taylors Beschreibungen über die Centennial Exhibition in Philadelphia im Jahre 1876 und die frühen tage des Studentenlebens am Vassar College. Die Briefe geben so viele Einblicke in das Leben des 19ten Jahrhunderts, was die Probleme und Interessen der Bürger waren, und wie sie ihre alltäglichen Herausforderung überwältigten. Nach einigen Briefen fühlt es sich an, als ob ich Teil der Familie wär — man fängt an sie zu mögen, obwohl sie vor vielen Jahren die Erde verlassen haben. In mir sammelt sich manchmal sogar eine gewisse Lehre, nachdem ich eine Reihe Briefe beendet habe und ich nicht Weiteres über das Familienleben erfahren kann.
Ich mag Eichhörnchen sehr! Mein Spitzname „Dilla“ stammt von dem Wort „Ardilla“ was Eichhörnchen auf Spanisch bedeutet. Aber am wichtigsten sind mir meine Pferde — meine freien Tage und Ferien verbringe ich hauptsächlich mich Ausritten rund um Bochum und Umgebung, oder ich reite auf anderen Wanderreitwegen in Deutschland oder woanders in Europa — der beste Weg sich zu entspannen!